Hallo zusammen,
wenn man hier im Forum unterwegs ist, liest man öfter Begriffe wie Drehmomentjunkie oder Hubraumsuchti - ein leichtes Lächeln in Bezug auf Simson sei mir gestattet. Aber das Thema gab es schonmal - in der Motorrad 18/2004. Leider ist der Artikel online nicht mehr verfügbar, aber ich habe mir den 2016 gesichert, da er meines Erachtens ein kleines Kunstwerk darstellt. Ich möchte es mit Euch teilen - es ist in der Form eines Briefes an den eigenen Vater: Autor ist Rolf Henniges.
Lieber Dad, weißt Du noch? Jedes Mal, wenn meine ölende, zerstürzte DT wieder mal ihren Dienst verweigerte, schob Nachbar Schmidt seine scheinbar für die Ewigkeit konservierte BMW R 65 aus der weiß gefliesten Garage und belebte sie per Knopfdruck. Deine Worte klingen mir noch heute im Ohr: »Wenn du mal so einen Hammer fährst, dann hast du es geschafft.«
Sicher, wir waren arm...
Dad, die R 65 als Maßstab, kann ich Dir heute besten Gewissens versichern: Ich hab’s fast geschafft. Letzte Woche standen die gewaltigsten Motorräder aller Zeiten für mich in der Tiefgarage.
Das günstigste davon, und jetzt halt Dich fest, kostet empörende 17790 Euro, ungefähr so viel wie Tante Luise für ihre riesige Kirschplantage erhielt, und hat mehr Hubraum als jedes von Deinen Autos bisher: 2,3 Liter. Triumph hat seiner Schöpfung gleich den richtigen Namen gegeben: Rocket III. Ehe Mutter das 362 Kilogramm schwere Ungetüm für einen Dampfer hält und Dich fragt, ob die ersten beiden gesunken sind: III steht für die Zylinderzahl.
Drei Zylinder. Ein riesiger, in Fahrtrichtung stehender Big Block, aus dem rechts verchromte Krümmer in drei einzelne Endschalldämpfer münden. Die enorme Sitzbank würde selbst das Gesäß von 200-Kilo-Werner locker verkraften und komfortabel betten. Der Tank, dieses unglaublich wuchtige Stahlbassin, das aussieht wie ein 100-Liter-Aquarium, fasst in Wirklichkeit »nur« 25 Liter. Viel zu groß, denkst Du jetzt bestimmt. Falsch. Vielleicht sogar zu klein. Denn 6,7 Liter haut sich die Rakete bei gemächlicher Gangart durch die Einspritzdüsen in ihre Brennräume. Wenn man’s richtig krachen lässt, sogar zehn. Nicht, dass Mutter denkt, ich fahre unvorsichtig, aber dieser Motor verführt.
Schon beim Starten merkt man die gewaltige Kurbel- und Ausgleichswelle, die Pleuel, die mit ihren Kolben jonglieren. Der Sound ist lange nicht so wie der Deiner Horex Regina. Er ist mehr eine aggressive, dumpfe Kakophonie. Und die Kupplung erfordert wesentlich weniger Handkraft als die Deiner 350er. Wenn dann die Zahnräder des Getriebes hör- und spürbar einrasten, du die 134 PS und 190 Nm auf die Reise schickst, dich mit beiden Händen am breiten Lenker festkrampfst, nach vorn beugst und dem Knurren des Motors und Wimmern des Gummis lauschst, dann spätestens wird klar, warum dieser Cruiser Rocket heißt. Von null auf 200 km/h vergehen 14,4 Sekunden. Das ist dreimal so schnell wie Heinz-Günthers Opel Calibra, von dem er immer behauptet, damit Rennen gewinnen zu können. Und: Die Rede ist hier von einem Cruiser. Ja, die Zeiten haben sich geändert.
Ich weiß, Reifendimensionen über 120 hältst Du für Gummiverschwendung. Wirst deshalb garantiert den Kopf schütteln: Auf der Rocket ist vorn ein 150er, hinten ein 240er montiert. Damit biegt sie trotz ihrer Pfunde überraschend wendig ums Eck. Auf Deiner Lieblingsstrecke zum Schrebergarten, dieser vernarbten, gewellten, durchlöcherten Asphalthaut, wird sie jedoch alt aussehen. Wird kippeln und der Ideallinie nur äußerst widerwillig folgen. Egal. Dafür bremst sie ungefähr zehnmal besser als Deine Horex. Drei Finger reichen. Dann wellt sich der Teer vorm Vorderreifen. Ich glaube kaum, dass Nachbar Schmidt erfreut wäre, wenn ich mit der Rocket heimkommen würde. Wenn die nämlich neben seiner neuen, polierten BMW R 1200 C parkt, sieht das aus, als hockten Meise und Papagei auf gleicher Stange.
Und Schmidt kann froh sein, dass ich nicht mit der – entschuldige den schwülstigen Namen – Honda Valkyrie Rune aufgetaucht bin. Die stellt alles bislang im Cruiser-Bereich Dagewesene in den Schatten. Ein sexy Chromgebirge, das ich am liebsten im Schlafzimmer neben dem Bett parken würde. Geht aber nicht. Du kennst ja die 112 Stufen bis zu meiner Wohnungstür im sechsten Stock. Fußrasten, Griffe, Armaturen, Lenker und -klemmung, alle Blenden, die gewaltige Auspuffanlage, Seitenständer, Blinker, Schalt- und Bremshebel, Sturzbügel – einfach alles, was nicht lackiert daherkommt, ist hochglanzpoliert oder verchromt.
Man sitzt ultrabequem im riesigen Lederpolster inmitten eines wundersam zerklüfteten Spiegels. Beobachtet beim Gleiten die sanften Bewegungen der – ebenfalls, na klar – verchromten Gabel mit gezogener Kurzschwinge, die das Rad auf dem Boden führt, als schwebe es. Erinnerst Du Dich an die titanische Schleppe des Hochzeitskleids von Barbara Thiele? Übertrag das auf ein Motorrad. Dann kannst Du Dir den Auftritt der Rune in etwa vorstellen.
Das Beste daran: Sie fährt, wie sie aussieht. Der Sechszylinder-Boxermotor aus der Gold Wing GL 1800 erzeugt 103 PS, 146 Nm, geht sanft ans Gas und gurgelt so epochal aus den zwei aufgefächerten Sidepipes wie ein riesiger amerikanischer Straßenkreuzer. Hörst Du eigentlich immer noch Geigensymphonien vor dem Einschlafen? Schließ dabei die Augen. So musst Du Dir Gleiten auf der Rune vorstellen. Vibrationsarm. Seidenweich. Auf Wolken gebettet. Dabei ergonomisch perfekt. Keine abgeknickten Knie oder langen Arme. Kraft aus Ruhe.
Und Masse. Die einsitzige Rune schleppt 398 Kilogramm auf die Waage und taumelt leicht um die Lenkachse. Bremsen ist effektiv und kinderleicht durch ein wirksames Verbundbremssystem. Ein tolles Bike. Ruck, zuck ist man verliebt. Du ahnst es. Die Sache hat doch einen Haken. Sie kostet rund 33000 Euro – ich hoffe, Dein Herzschrittmacher hat eine frische Batterie.
Die brauchst Du nämlich auch für das, was ich anschließend fahren durfte: Confederate F124 Hellcat. Klein. Schwarz. Gemein. Handgefertigt in den USA. 60000 Euro. Sag jetzt nichts. Ich weiß, unser Haus hat damals die Hälfte gekostet. Aber: Keine Villa der Welt wird je so viel Aufsehen erregen wie diese in New Orleans gebaute Flanierraupe. Auf den ersten Blick besteht die Hellcat nur aus einem fetten, luftgekühlten 2032-cm3-V2, zwei Rädern, einem tropfenförmigen Karbontank und einer 50er-Upsidedown-Gabel von Marzocchi.
Zusammengehalten werden die Bauteile von einem ultrastabilen Rahmen, hoch vergüteten Schrauben und Aufnahmen aus Werkstoffen, die größtenteils aus dem Flugzeugbau stammen. Alles an der Maschine bis auf die Spiegel wirkt bedingungslos stabil. Denk mal an die Verschraubungen, als wir mitten auf dem Feld den Vierzylinder aus dem Mähdrescher herausgewurschtelt haben. Den Vierer-Inbus oder einen Achter-Ring-Maul kann man getrost daheim lassen. Und so fühlt es sich auch an. Brutal stabil. Extrem kompakt.
Die Hellcat sackt kaum ein, wenn man sich auf dem Karbonsattel niederlässt. Jeweils 50 Millimeter Federweg, extrem straff abgestimmt, sollen ihrer Aufgabe nachkommen, zumindest grobe Schläge zu absorbieren. Zunächst jedoch heißt es starten. Choke rein, Knopfdruck. Unvorstellbar, welch Bombeneinschlag. Die Schockwellen der gezielten Verbrennung donnern, so scheint’s, ungebremst durch das Auspuffgewürm, fegen Straßen und zersprengen Menschentrauben, die sich permanent bilden. Ruppig, rau, asynchron. Der Motor klingt im Leerlauf etwa so wie unser Einzylinder-Diesel-Betonmischer seinerzeit, bei dem die Einspritzpumpe Wasser gezogen hatte.
Der Rest ist unvergleichlich. Bis 2500/min stolpert der Motor vor sich hin. Die Abstimmung im Teillastbereich ist unglücklich. Dann geht’s los. Wenn je eine Leistungsentfaltung als jähzornig beschrieben werden darf, dann die der Hellcat. Bis zu 6000-mal pro Minute schlittern die beiden titanischen 105er-Kolben 117,5 Millimeter durch ihre Behausung. Liefern 194 Nm und 133 PS. Nichts Wildes, denkst Du. Stopp. Das sind immerhin vier Nm mehr als die Triumph bei fast identischer Leistung und erheblich weniger Gewicht. 261 Kilogramm bringt die Höllenkatze auf die Waage.
Doch Vater, das ist es nicht. Die Hellcat vermittelt durch ihre Kompaktheit das Gefühl, direkt auf diesem urigen Motor zu hocken. Sie ist eine Fahrmaschine par excellence, die Dich ungefiltert teilhaben lässt am Rausch der Beschleunigung. Am Leben des V2. Der Beschaffenheit der Straße. Sie lenkt ultradirekt ein. Fast, als hielten Deine Fäuste die Vorderradachse. Schräglagen müssen jedoch erzwungen werden. Ja, ja, ich weiß schon. Der 240er-Hinterreifen fordert seinen Tribut.
Du hast bestimmt mitgezählt. Ein Motorrad fehlt noch. Und darauf habe ich mich ganz besonders gefreut: Münch Mammut 2000. 86000 Euro. Nennleistung: 256 PS. 359 Nm. Die Krönung eines jeden Motorradtesters. Wer dieses Ungetüm einmal bewegt hat, hat’s geschafft.
Sei bitte nicht böse. Fahren durfte ich nicht. Aber mal sitzen. Das ist nichts für mich mit meinen 1,69 Metern. Die Münch wiegt knapp acht Zentner, hat einen extrem hohen Schwerpunkt, einen sehr kleinen Lenkeinschlag und geschätzte 92 Zentimeter Sitzhöhe. Um die Kupplung zu betätigen, müsste ich wochenlang im Fitness-Studio trainieren.
Die Frage, wie sie denn fährt, beantwortete der Münch-Tester so: »Schräglagen sind nur mäßig möglich. Die Power ist jedoch unvergleichlich: wie der Ritt auf der Kanonenkugel. Wenn bei 120 km/h der Turbolader sein Stelldichein gibt, schreibt der 200er-Reifen Autogramme auf den Asphalt.«
Damit will ich den Brief beenden. Sei nicht traurig. Die Münch wäre garantiert nichts für Dich. Allein schon wegen der Reifengröße.